Nach der Austrittsentscheidung Grossbritanniens muss die Europäische Union sich selbst und ihren Weg in die Zukunft neu definieren – ein Blick zurück ist dabei hilfreich
Einige Wochen sind seit der Entscheidung Großbritanniens vergangen, die Europäische Union zu verlassen. Nach anfänglichem Entsetzen, Kursstürzen an der Börse, großem Wertverlust des Pfunds und Demonstrationen in London beruhigt sich die politische und wirtschaftliche Situation im Vereinigten Königreich und in Europa zusehends. Nach dem weitgehend reibungslosen Wechsel im Amt des britischen Premierministers von David Cameron auf Theresa May am 13.06.2016 scheint nun die politische Agenda für die nächsten Monate und Jahre in Großbritannien und in der Europäischen Union gesetzt.
Frau May hat bereits angekündigt, die Austrittsentscheidung des britischen Volkes in jedem Fall umsetzen zu wollen. Ein zweites Referendum kommt für sie nicht in Frage.
Da nun klar scheint, welchen Weg das Vereinigte Königreich gehen wird, ist es auch für die Europäische Union an der Zeit, sich die Zukunftsfrage zu stellen.
Schon seit langem ist ein großer Vertrauensverlust der Bürger der Europäischen Union in deren Verfassung und Organe augenfällig. Was verdeckt schwelte, kommt nun überdeutlich ans Tageslicht. Dass Brüsseler Bürokraten seit Jahrzehnten eine schleichende Kompetenzverlagerung von den Mitgliedsstaaten hin zur Administration der EU betrieben haben liegt auf der Hand. Fast alle europäischen Politiker haben diese Entwicklung unterstützt oder billigend in Kauf genommen. Großbritannien war hier schon immer eine rühmliche wenn auch vielgeschmähte Ausnahme. Auch Ungarn wäre an dieser Stelle zu nennen. Die Briten haben immer auf die Gefahren einer immer stärkeren europäischen Integration hingewiesen, die dort stets abgelehnt und durch Sonderabkommen teilweise verhindert wurde. Die Verleugnung des Nationalstaats in Europa und das Trachten nach einer EU in Gestalt von „Vereinigten Staaten von Europa“ glich und gleicht in Deutschland einem Mantra. Dass die immer stärkere europäische Integration in vielen Staaten der EU gegen den Willen der Bürger vorangetrieben wurde, kümmerte bis vor kurzem kaum einen dafür Verantwortlichen. Andererseits war und ist es für viele europäische Mandatsträger stets praktisch, Brüssel für eigene Fehler und Versäumnisse in Haftung zu nehmen und sich dafür vom heimischen Publikum applaudieren zu lassen.
Europa ist Peripherie, nicht Zentrum
Für eine Erneuerung der Europäischen Union ist es unerlässlich, sich auf das Wesen Europas rückzubesinnen. Europa ist eben keine zweite USA und wird aus vielerlei Gründen auch nie eine werden. Europa ist aus seiner geschichtlichen Entwicklung heraus ein Kontinent gewachsener Nationalstaaten mit ihrer je eigenen Prägung, Kultur und Sprache. Die Summe dessen macht aus, was wir europäische Kultur nennen: ein großer Kulturraum mit gemeinsamer Identität, für die Verschiedenheit konstitutiv ist. Ich behaupte sogar, dass sich die europäische Kultur in Politik, Wirtschaft, Kunst, Musik, Literatur und Sport über viele Jahrhunderte nur deshalb so reich hat entwickeln können, weil wir uns stets im Spannungsfeld zwischen Verschiedenartigkeit mit gemeinsamen Wurzeln befunden haben und uns bis heute befinden. Oftmals war und ist das gerade das Gegensätzliche anziehend und befruchtend. Dieser Zustand ist kein Malus, den es möglichst schnell und gründlich auszumerzen gilt.
Im Gegenteil: Europa ist nicht Zentrum, Europa ist Peripherie – diese Feststellung macht die Stärke dieses Kontinents aus.
Exkurs: Der große österreichische Literat Joseph Roth hat die Erkenntnis „Das Wesen Österreichs ist nicht Zentrum sondern Peripherie. Österreich ist nicht in den Alpen zu finden, Gämsen gibt es dort und Edelweiß und Enzian, aber kaum eine Ahnung von einem Doppeladler. Die österreichische Substanz wird genährt und immer wieder aufgefüllt von den Kronländern“ in Bezug auf das 1918 untergegangene Habsburgerreich in seinem 1938 erschienenen Roman „Die Kapuzinergruft“ bereits niedergeschrieben.1 Die Donaumonarchie ist in mancher Hinsicht vergleichbar mit der heutigen Europäischen Union. Auch hier handelte es sich um eine Staatengemeinschaft, die aus sehr unterschiedlichen Nationen, Sprachen und Mentalitäten bestand. Geeint hat die „Bürger in jeder Ecke des Reiches kollektive Erfahrungen, die sprachliche, konfessionelle und regionale Trennlinien überkreuzten“, wie der amerikanische Historiker Pieter M. Judson in seinem 2016 erschienenen Buch „The Habsburg Empire“ schreibt.2 Auch hier standen die Fliehkräfte auseinanderstrebender Nationalstaaten stets im Widerspruch zum geeinten Gesamtstaat, der viele Vorteile für alle brachte aber auch zunehmend kritisch gesehen wurde. Immer wieder ist es der Monarchie gelungen, die unterschiedlichen Nationalitäten zusammenzuhalten. Judson schreibt weiter: „Jedenfalls habe “die Existenz nationalistischer Bewegungen und nationalistischer Konflikte in der österreichisch-ungarischen Politik den Staat nicht entscheidend geschwächt, und sie haben sicherlich nicht seinen Untergang 1918 verursacht”. Erst die während des Ersten Weltkriegs de facto herrschende Militärdiktatur sowie das Scheitern des Staates bei der Versorgung zunächst von Zigtausenden Binnenflüchtlingen – vor allem aus Galizien und der Bukowina – in beinahe gefängnisartigen Lagern und später der gesamten Zivilbevölkerung mit ausreichend Nahrungsmitteln habe es “regionalen nationalistischen Autoritäten erlaubt, Ende Oktober die Macht von den kaiserlichen Autoritäten zu übernehmen”.3 Auch wenn historische Vergleiche stets heikel sind, ist dieser Exkurs angebracht, da einige wesentliche Vergleichbarkeiten bestehen.
Das europäische Projekt – Wunsch und Wirklichkeit
Natürlich darf nicht verschwiegen werden, dass die Verschiedenartigkeit Europas über Jahrhunderte auch immer wieder zu Spannungen und Kriegen geführt hat, zuletzt in zwei große Weltkriege mit unzähligen Opfern. Dass die Gründerväter des neuen Europas nach dem Zweiten Weltkrieg vom Wunsch beseelt waren, ein geeintes Europa des Friedens und der Freiheit zu bauen, ist verständlich und richtig. Daraus ist ein einzigartiges historisches Projekt geworden, das in der Tat auch in den letzten 70 Jahren dazu beigetragen hat, den Frieden in Europa zu sichern.
Nur, was ist aus der europäischen Idee, dem europäischen Projekt geworden? Pessimistisch betrachtet könnte man sagen, die EU ist zu einem selbstgefälligen Koloss verkommen, der an sich und seinen eingeübten Ritualen satt geworden ist. Geeint ist man vor allem dann, wenn es darum geht, Geld zu verteilen. Die sogenannten „europäischen Werte“ werden in dieser Weise sicher nicht gelebt – so sie überhaupt in der von europäischen Politikern propagierten Gestalt je existiert haben. Das Ringen um die Euro-Rettung, den Verbleib Griechenlands in Eurozone und EU und die Flüchtlingskrise haben uns innerhalb nur einen Jahres klar vor Augen gestellt, wie weit Anspruch und Realität in Europa auseinanderklaffen. Diese Situation bietet für nationalistische Parteien und Bewegungen in ganz Europa geradezu ideale Voraussetzungen. Die Menschen fühlen sich mit ihren Sorgen nicht ernst genommen und allein gelassen und sind daher empfänglich für vermeintlich fürsorgliche Demagogen, die einfache Antworten auf komplexe Fragen parat haben. Die Durchführbarkeit ihrer Vorschläge mussten sie nie unter Beweis stellen. Dabei bleibt es hoffentlich.
Diesem Befund schließen sich Fragen an, die für die Zukunft von Bedeutung sind:
Das bevorstehende Ausscheiden Großbritanniens aus der Europäischen Union sollte allen Europäern Denkanstoß genug sein, über die Zukunft dieses, unseres Kontinents nachzudenken. Europa mit seiner reichen Vergangenheit, seinem großen kulturellen Schatz spielte und spielt für die Menschheit eine wichtige Rolle. Es ist es wert, in eine gute Zukunft geführt zu werden.
Georg Frankenfeld, 14.7.2016
1 Joseph Roth: Die Kapuzinergruft. Roman. De Gemeenschap, Bilthoven (Holland), 1938
2 Pieter M. Judson: The Habsburg Empire. A New History. Harvard University Press, Cambridge Massachusetts (USA), 2016
3 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29.04.2016, Buchbesprechung von Thomas Winkelbauer zu Pieter M. Judson „The Habsburg Empire. A New History“
4 Ergänzend zur 4. Frage folgender Denkanstoß: “The empire’s creative solutions to governing its many lands and peoples—as well as the intractable problems it could not solve—left an enduring imprint on its successor states in Central Europe. Its lessons remain no less important today.” Schlusssatz zur Buchbeschreibung von Pieter M. Judson “The Habsburg Empire. A New History.”